Ein chronisch erschöpfter Patient fragt hoffnungsvoll nach einer hochdosierten Vitamin-C-Infusion. Woher kommt dieser Glaube und was sagt die Wissenschaft dazu?
Die Evidenzlage ist dünn. Dennoch erlebt Vitamin C seit der Pandemie eine massive Renaissance, wie Google-Suchanfragen zeigen:
Dieser Artikel trennt historische Mythen von evidenzbasierter Medizin – und erzählt dabei eine faszinierende Geschichte.
Hier erstmal die „harte“ Evidenz
Am besten untersucht wurden grippale Infekte. Die präventive Gabe von Vitamin C konnte die Symptom-Dauer und -Schwere leicht reduzieren. Eine therapeutische Gabe bei bestehenden Effekten war wirkungslos. Hier die Ergebnisse des Cochrane Reviews (56 Studien, 11.000 Patienten, ≥200mg/Tag):
Hier eine Zusammenfassung der relevantesten Evidenz (v.a. Systematic Reviews und Leitlinien) zu vieldiskutierten Indikationen:
Indikation | Evidenz-Lage | Kurz-Fazit |
Müdigkeit – ME/CFS – Long-COVID | · NICE 2021: keine Vitamin-Therapie bei ME/CFS · AWMF 2022: Vitamin-Therapie bei “Müdigkeit” nicht einmal erwähnt · Systematic Review 2021: 9 Studien, jedoch bei Krebs- und Zoster-Patienten, meist signifikante Effekte und schwere methodische Mängel · Ein guter RCT 2012: 141 gesunde Büroangestellte, kleiner Effekt (-0,7 Punkte auf 10-Punkte-Skala) | Es gibt keine hochwertigen Studien zu Vitamin C (p.o./i.v.) bei diesen Indikationen. Müdigkeit bei Krebspatienten oder in der Arbeit hat deutlich andere Pathomechanismen. |
Wundheilung | · Systematic Review 2022: 18 kleine, heterogene Studien; die meisten waren signifikant mit teils deutlichen Effekten · Dekubitus-RCT (1974!): Wundfläche um 84% (Vitamin C) statt 43% (Placebo) reduziert · Ulkus-RCT (2020): Heilung bei 100% statt 56% nach 8 Wochen | Die Studienlage ist limitiert, aber teilweise deutliche Effekte. Ein lohnendes Forschungsfeld! |
Karzinome | · Systematic Review 2025: 3 kleine Studien zu Kolon/Magen-CA, nicht signifikant · Systematic Review 2019: 19 Studien diverser Karzinome, alle methodisch stark limitiert · Pankreaskrebs-RCT 2024: mittlere Überlebenszeit 16 statt 8 Monate bei 75g i.v. 3x/Woche (p=0,03) | Es gibt dazu kaum hochwertige Studien, trotz plausibler Pathomechanismen (i.v.). Ein vielbeachteter RCT 2024 wartet auf Bestätigung durch gerade laufende RCTs. |
Eisenaufnahme | · Zwei Systematic Reviews (2023) zeigten keinen signifikanten bzw. einen signifikanten, aber klinisch unbedeutenden Hb/Ferritin-Anstieg | Laut Physiologie sollte Vitamin C bei der Eisenaufnahme helfen. In der Praxis bringt es jedoch (fast) nichts. |
Nebenwirkung: Nierensteine | · Systematic Review 2019: vier Studien zeigten nur bei manchen Tagesdosen bei Männern signifikante Auswirkungen | Laut Physiologie fördert Vitamin C Kalziumoxalatsteine. Studien bestätigen das nur teilweise. |
Vitamin C gegen Müdigkeit: Die Geschichte einer erfundenen Indikation
Von der Erkrankung…
Geschätzte 2 Millionen Seefahrer starben zwischen 1500 und 1800 an Skorbut. Obwohl Vasco da Gama bereits 1497 erfuhr, dass Citrusfrüchte helfen, wurde das erst 1747 experimentell bestätigt. Sir James Lind gab 12 Skorbut-kranken Matrosen sechs unterschiedliche Lebensmittel. Jene mit Orangen/Zitronen zeigten rasche Besserung – die erste kontrollierte klinische Studie der Geschichte war geboren! Zwar nicht randomisiert oder verblindet, aber immerhin.
…zur Propaganda.
Vitamin C wurde 1912 entdeckt, 1928 isoliert, 1932 synthetisiert, 1934 patentiert und 1937 mit zwei Nobelpreisen veredelt. Die Firma Roche hatte nun ein vielversprechendes Produkt – aber der Skorbut-Markt war winzig. Deshalb stand 1939 in internen Dokumenten:
«Der harmlose Mensch, insbesondere die Hausfrau, verlangen [sic!] nicht danach; weder Zunge noch Auge wird durch Vitamingehalt zum Kauf gereizt. Die Aufgabe lautete also: durch Propaganda […] überhaupt erst das Bedürfnis zu schaffen.»
Daraufhin wurde Vitamin C für Hunde und Katzen produziert, für vitaminisierte Hautcremes, Nylonstrümpfe und Zigaretten, sogar für einen neuartigen Sprengstoff.
Vom Müdigkeits-Geniestreich…
Der große Durchbruch kam jedoch erst mit der Erfindung neuer Indikationen – Vitamin C gegen Müdigkeit, Infektanfälligkeit, Wundheilung und Schmerzen. Ohne jegliche wissenschaftliche Grundlage. Heute, 90 Jahre später, sind diese Indikationen immer noch beliebt. Zuerst wurden die Pharmavertreter jedoch von den Hausärzten – unerwarteterweise – ausgelacht. Roche dachte eigentlich, die «praktischen Ärzte» hätten wegen «dem Glauben des Publikums an die Vitamine» im Gegensatz zu den «wissenschaftlich eingestellten Vertretern der Ärzteschaft, d.h. vor allem die Kliniker und Spazialisten» ein großes Interesse an Vitamin C. Sie wurden jedoch von «über 80% der Praktiker» ausgelacht, da es sich um eine «eine Modeströmung handle, die bald verschwinden würde». (Quelle)
…zum Disease Mongering.
Die Propaganda-Abteilung gab jedoch noch nicht auf. Sie plante zu definieren «wo das Gebiet der C-Hypovitaminosen eigentlich beginnt,» was durch die Einführung einer empfohlenen Tagesdosis in den USA 1941 Realität wurde und den Markt erweiterte. Weiters wurden Sportärzte, Radprofis und Soldaten als Multiplikatoren – heute würde man Influencer sagen – identifiziert und von Roche‘s „wissenschaftlichem Dienst“ mit Informationen versorgt. Im zweiten Weltkrieg wurden Vitamine dann sogar zur neuen Bürgerpflicht, wie zeitgenössische Werbung für „Victory Vitamin C“ zeigt:
Roche hatte mit der Strategie Erfolg und erwirtschaftete damals bis zu dreiviertel seines Umsatzes mit Vitamin C. Diese Taktiken – Erfindung neuer Indikationen („off label“), Ausweitung von Grenzwerten („disease mongering“) und Gewinnung von Meinungsmachern („influencer“) – gibt es immer noch und wir sollten sie erkennen.
Der Nobelpreisträger-Effekt: Hype & Gegenreaktion
Die Geschichte von Vitamin C ist untrennbar mit einem Mann verbunden: Linus Pauling. Er war die einzige Person, die zwei ungeteilte Nobelpreise erhielt – 1954 in Chemie und 1962 den Friedensnobelpreis. Ein Vortrag 1960 sollte sein Leben und die Geschichte von Vitamin C für immer verändern. Denn ein Mann im Publikum, Irwin Stone, schrieb ihm im Anschluss einen Brief und empfahl ihm täglich 3g Vitamin C einzunehmen, um länger zu leben. Pauling fühlte sich danach „lebendiger und gesünder“, steigerte seine Tagesdosen bis auf 18g und wurde von Vitamin C wissenschaftlich besessen.
Sein Buch „Vitamin C und Erkältungen“ (1970) wurde durch seine Berühmtheit ein Bestseller und Apotheken meldeten einen 10-fachen Absatzsprung. Auch die Wissenschaft war begeistert und veröffentlichte in den 1970ern dazu 29 RCTs. Der Hype war am Höhepunkt angelangt.
Als 1975 im JAMA jedoch gleichzeitig drei negative Studien erschienen, war er auch schnell wieder beendet. Obwohl später klar wurde, dass diese drei Studien schwere methodische Schwächen hatten, war das Lehrbuchurteil „kein Nutzen“ beschlossen. Seitdem gab es kaum noch RCTs dazu und einen „kognitiven Bias“ in der Ärzteschaft – negative Studien zu Vitaminen wurden unkritisch akzeptiert, positive Studien wurden skeptisch abgelehnt. Gute Wissenschaft sollte jedoch immer sachlich bleiben.
Wissenschaftliche Lerneffekte
- Finanzielle Interessenskonflikte sind relevant. Wirtschaftlich war es sinnvoll neue Indikationen zu erfinden, Grenzwerte zu senken, Multiplikatoren zu nutzen.
- Anekdotische Evidenz darf man niemals überbewerten. Pauling’s persönliche Erfahrung war wohl ein Placebo Effekt oder er fühlte sich zufällig danach besser.
- Eminenzen sind auch nur Menschen, selbst doppelte Nobelpreisträger. Pauling lag wissenschaftlich oftmals richtig, dennoch kann er auch mal falsch liegen.
- Schlagzeilen steigern Umsätze. Die Bekanntheit eines Medikaments hat meist nur wenig mit der Verlässlichkeit der Evidenzlage zu tun.
- Kognitiven Bias gilt es zu vermeiden. Denn ein unberechtigter Hype ist genauso unwissenschaftlich wie seine dogmatische Überkorrektur.
- 90 Jahre lang diskutieren wir, ob Vitamin C gegen Müdigkeit, Infekte, Ulzera und Karzinome hilft. Dass wir noch immer keine klaren Antworten haben, ist auch eine Wissenschaftsschwäche. So häufige Therapien sollten untersucht werden.
Praktisches für das Patientengespräch
- Die Vorstellung, dass Vitamin C bei Müdigkeit hilft, ist 90 Jahre alt und basiert auf einer Marketingkampagne und der persönlichen Meinung eines berühmten Nobelpreisträgers, nicht auf wissenschaftlichen Belegen.
- Zu Fatigue, ME/CFS und Long-COVID gibt es keine hochwertigen Studien.
- Bei Erkältungen wirkt nur die tägliche präventive Gabe (ein bisschen).
- Bei Dekubitus/Ulzera könnte es gut helfen (wenige, kleine Studien).
- Die Eisenaufnahme steigt nur vielleicht (ein bisschen).
- Natürliche Quellen sind eine gute Alternative – schon 1 Paprika, 1 Orange oder 1 Brokkoli enthält die empfohlene Tagesdosis an Vitamin C.
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