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Die 7 Gewohnheiten großartiger Hausärzte.

Erkenntnisse einer weltweiten Befragung von 468 Hausärzten in 48 Ländern

Was wäre, wenn du den hilfreichsten Ratschlag von hunderten Kollegen aus aller Welt erhalten könntest? Genau das wollten wir herausfinden. Wir baten 468 Hausärzte aus 48 Ländern um ihre wertvollste Empfehlung – und extrahierten daraus sieben Gewohnheiten, ergänzt um vier zusätzliche Themen. Außerdem entwickelten wir eine 4-Wochen-Challenge, mit der du all diese Gewohnheiten ausprobieren und direkt in den Praxisalltag integrieren kannst.

Über den Global Family Medicine Community Survey

Wie?

Die Umfrage wurde in den Newslettern Golden Nuggets, WONCA World und WONCA Europe verbreitet.

Wer?

468 Hausärzte aus 48 Ländern haben anonym teilgenommen.

Was?

531 ihrer „besten Ratschläge“ wurden gesammelt, analysiert (umformuliert, gezählt und thematisch gruppiert) und zu sieben Schlüsselgewohnheiten und vier weiteren Themen verdichtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Die 7 Gewohnheiten großartiger Hausärzte

  • Vier zusätzliche Themen

  • Die Family Medicine Challenge (4-Wochen-Plan)

  • Kommentare von ehemaligen WONCA Präsidenten

Die 7 Gewohnheiten Großartiger Hausärzte

In der Umfrage gaben 468 Hausärzte 531 Ratschläge. Viele davon wurden wiederholt geteilt – hier sind die sieben häufigsten Empfehlungen:

  1. Zuerst Zuhören (1-2 Minuten)

    127 Mal genannt. Kein anderer Ratschlag wurde so häufig geteilt. Die kollektive Erfahrung ist eindeutig: Kommunikation ist Priorität #1.

    Warum? Ein frühes „ausreden lassen“ verbessert die Beziehung und liefert oft schon die Diagnose.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Aufmerksam zuhören. Ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. (58)
    • Ausreden lassen. 60, 90 oder 120 Sekunden. (26)
    • Gute Fragen stellen. Offenes Ende, ICE (Ideas, Concerns, Expectations) oder FIFE (Feelings, Ideas, Fears, Expectations). (12)
    • Neugierig und offen bleiben. Keine voreiligen Schlüsse ziehen. (9)
    • Sinnesorganen vertrauen. „Eine gute Anamnese liefert in 80% die Diagnose.“ (7)

    Wie ein berühmtes Zitat sagt: „Höre deinem Patienten zu; er erzählt dir die Diagnose“.

  2. Pflege dein Netzwerk

    54 Mal genannt. Gute Hausärzte sind Teamplayer sind, keine Einzelkämpfer.

    Warum? Niemand weiß alles und ein starkes Netzwerk reduziert Unsicherheiten, schützt vor dem Tunnelblick und macht Freude.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Persönliches Netzwerk aufbauen. Kollegen, Fachärzte und andere Gesundheitsberufe. (23)
    • Bei Unsicherheit: aktiv um Rat fragen. Zur Gewohnheit machen. (15)
    • Finde einen Mentor. Besonders zu Berufsbeginn. (7)
    • Beziehungen pflegen. Regelmäßig, treffen, telefonieren, schreiben; eine Chatgruppe oder E-Mail-Verteiler initiieren. (3)
    • Eigene Fehler mit Kollegen besprechen. Jeder macht Fehler – nicht aufgeben. (2)
    • Einer Balintgruppe beitreten. (2)
  3. Körperliche Untersuchung

    34 Mal genannt. Mehrere haben geschrieben: „untersuchen, untersuchen, untersuchen“. Der körperliche Befund bleibt ein Eckpfeiler der Allgemeinmedizin.

    Warum? Berührung ist diagnostisch wertvoll, therapeutisch heilsam und vertrauensbildend.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Immer untersuchen. Auch wenn „nichts“ zu erwarten ist. (25)
    • Keine Angst vor Berührung. Hands-on! (5)
    • Es heilt und baut Vertrauen auf. (3)
    • Fokussierte Untersuchung zum Ausschluss einer schweren Erkrankung. (2 Hausärzte)
    • Eine Stimme war dagegen: „Anamnese ist alles, Untersuchung überschätzt.“ (1)
  4. Beziehung = Superpower

    30 Mal genannt. Der große Vorteil der Allgemeinmedizin ist die langfristige Arzt-Patient-Beziehung – und das daraus erwachsende Vertrauen.

    Warum? Vertrauen verbessert die Kommunikation, erleichtert die Diagnostik, verstärkt Placeboeffekte und erhöht die Compliance. Sie ist das unsichtbare Heilmittel der Allgemeinmedizin.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Zeit investieren, um Patienten wirklich kennenzulernen. . (14)
    • Vertrauen als Superkraft pflegen und nutzen. (9)
    • Placebo und Nocebo verstehen. Wortwahl bewusst wählen. (3)
    • Übertragung und Gegenübertragung verstehen und reflektieren. (2)
    • Patienten nie „verlassen“. Auch wenn Empfehlungen nicht befolgt werden. (1)
  5. Lerne kontinuierlich

    30 Mal genannt. Gute Medizin ist eine Reise ohne Ziellinie.

    Warum? Medizin entwickelt sich ständig weiter. Nur wenn wir lebenslang neugierig und offen bleiben, entwickeln wir uns mit ihr mit.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

  6. Vertraue deiner Intuition

    23 Mal genannt. Es ist schwer in Worte zu fassen; genannt wurden „Intuition“, „Bauchgefühl“, „erster Eindruck“, „Instinkt“, oder „irgendetwas stimmt nicht“.

    Warum? Intuition ist eine unbewusste Mustererkennung basierend auf Erfahrungen. Sie kann lebensbedrohliches subtil erkennen, bevor rationale Befunde vorliegen.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Intuition ernst nehmen, oder wie auch immer du es nennen möchtest. (21)
    • Vertraue deinem Gefühl, wenn es sich komisch anfühlt, wenn etwas „nicht stimmt“: der Patient könnte krank sein – auch ohne rationale Erklärung. (21)
    • Sicherheitsnetz. Dokumentiere deine Bedenken, plane ein zeitnahes Follow-Up, hole ggf. eine zweite Meinung ein. (1)
  7. Sei gut zu dir

    19 Mal genannt. Du bist dein wichtigster Patient!

    Warum? Nur wer selbst gesund bleibt, kann für Andere da sein. Selbstfürsorge ist kein Egoismus oder Luxus, sondern ärztliche Verantwortung.

    Was haben die Hausärzte genau empfohlen?

    • Führe ein gesundes Leben. Praktiziere Selbstfürsorge. (11)
    • Sei freundlich zu dir selbst. Verzeihe dir Fehler. Du bist auch nur ein Mensch. (8)
    • Nimm mehr Pausen und Urlaub. (3)
    • Akzeptiere deine eigenen Grenzen. Schütze deine Zeit und Energie. (2)

Vier zusätzliche Themen

Es gab noch mehr Empfehlungen als diese sieben Gewohnheiten. Ich habe sie in vier Themenbereiche aufgeteilt.

  1. Wenn du nicht weißt, was zu tun ist…

    Drei Optionen wurden genannt:

    Watchful Waiting (18)

    • Zeit als diagnostisches Instrument nutzen. kaufen. Nicht immer braucht es sofort eine Antwort. (11)
    • Wie? Akute Bedrohungen ausschließen und Red Flags beachten. Klare Sicherheitsanweisungen geben („Worauf achten? Wie Hilfe suchen?“), oder gleich ein Follow-up vereinbaren. (1)
    • Und dann? Die Zeit nutzen: Kollegen konsultieren, Literatur checken, den Verlauf beobachten. (3)
    • Es ist eine „bewusste Zeitverzögerung.“ (1)

    Anders denken (14)

    • Psychosoziale Ursachen erwägen, zuvor somatisch sorgfältig abklären. (6)
    • Nochmal nachdenken, nochmal untersuchen (inkl. Basics). (3)
    • Frage nach Sorgen und Erklärungen des Patienten. (2)
    • Durch die Differentialdiagnosen durcharbeiten, von häufig nach selten. (1)
    • „Wenn ratlos: Harnstreifentest.“ (1)
    • „Wenn nichts zusammenpasst, ans Bindegewebe denken.“ (1)

    Überweisung an einen Spezialisten (3)

  2. Konsultationen gut beginnen und beenden

    Guter Start:

    • Früh priorisieren, um die knappe Zeit optimal zu nutzen. (1)
    • Frage: „Was ist heute Ihre größte Sorge?“ (1)

    Gutes Ende:

    • Frage: „Was sollten wir heute noch besprechen?“ – dann kommt oft etwas Wichtiges heraus (aber das kann dauern…). (4)
    • Alternativen: Weitere Anliegen für nächsten Besuch notieren oder fragen „Was sollten wir beim nächsten Mal besprechen?“ (1)
    • Gib deinen Patienten schriftliche Anweisungen oder vorbereitete Merkblätter für häufige Themen mit. (2)
    • Verwende die Teach-Back-Methode, um Verständnis und Erinnerung zu fördern. (1)
  3. Moderne Wissenschaft und Technologie nutzen

    • Nützliche Tools anwenden. z.B. POCUS (v.a. Lunge), Pulsoxymeter, Dermatoskop, Auskultation bei forcierter Exspiration, POC-Evidenztools (z.B. DEXIMED), AI-Scribe zur Entlastung. (9)
    • Organisiert arbeiten. Systematisch, einfach halten, sauber dokumentieren; Scores, Rechner, Notfallalgorithmen nutzen. (9)
    • Vortest-Wahrscheinlichkeit verstehen. Prävalenzen in der Hausarztpraxis sind meist niedriger – das reduziert die Aussagekraft von Tests. (4)
    • Studien lesen lernen. Kritisch bewerten können. (3)
    • Häufiges ist häufig, Seltenes ist selten. „Wenn du Hufgeräusche hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras.“ (3)
    • Evidenzbasiert arbeiten – und zugleich die Patienten-Perspektive respektieren. (2)
    • „Sei nicht der Erste und nicht der Letzte bei der Anwendung von Neuem.“ (1)
  4. Allgemeinmedizinische Werte leben

    • Sei authentisch und ehrlich. Du musst nicht alles wissen. (18)
    • Sei empathisch und fürsorglich. (13)
    • Primum non nocere. Weniger ist oft mehr: weniger verschreiben, untersuchen, überweisen; nicht alles umsetzen, was Spezialisten vorschlagen; gleichzeitig Red Flags erkennen und „better safe than sorry“ sein. (8)
    • Sei geduldig und bleibe ruhig. (7)
    • Respektiere deine Patienten. Sie sind die Experten ihres Lebens – auch bei Dissens. (5)
    • Medizin ≠ Geldmaschine. (3)
    • „Der Patient ist dein Freund.“ (2)
    • „Behandle deinen Patienten, als wäre er ein Familienmitglied.“ (1)

Die Family-Medicine-Challenge (4-Wochen-Plan)

Dieser Artikel fasst die kollektive Weisheit von 468 Hausärzten aus 48 Ländern zusammen. Das Ergebnis sind praktische Empfehlungen – erlernbare Gewohnheiten. Es ist interessant sie zu lesen, aber Patienten profitieren erst dann davon, wenn man sie regelmäßig anwendet! Deshalb haben wir dieses 4-Wochen-Trainings-Programm entwickelt, um sie auszuprobieren und sich anzueignen. Bist du bereit für diese Herausforderung?

Um deinen Fortschritt einfach messen zu können, lade die PDF-Version hier herunter und drucke sie aus.

„Die Family Medicine Challenge:
Erlerne die Gewohnheiten Großartiger Hausärzte

Wann?

Was?

Erledigt?

Woche 1
MontagLass deinen ersten Patienten 90 Sekunden lang ausreden. 
DienstagRufe einen Kollegen an, frage um medizinischen Rat. 
MittwochChecke Vitalfunktionen und mache eine fokussierte Untersuchung, auch wenn du „schon weißt“ was los ist. 
DonnerstagWende die Teach-Back Methode an, um Verständnis und Erinnerung des Patienten zu verbessern. 
FreitagMache eine 15-min Nachbesprechung mit einem vertrauenswürdigen Kollegen. 
WochenendeMache Bewegung/Sport (was macht dir am meisten Spaß?). 
Woche 2
MontagErfahre die Lebensgeschichte eines recht neuen Patienten. 
DienstagErstelle eine Liste von relevanten Kollegen/Spezialisten. Nimm mit einem wieder Kontakt auf. 
MittwochGründe eine WhatsApp-Gruppe und lade Kollegen ein. 
DonnerstagGibeinem Patienten schriftliche Anleitungen mit. 
FreitagMache eine Nachbesprechung über Fehler (bei Vertrauen). 
WochenendeMache etwas Entspannendes (z.B. Meditation, Yoga, Sauna). 
Woche 3
MontagBeende eine Konsultation mit „Was sollten wir heute noch besprechen?“ – wenn du Zeit hast. 
DienstagErstelle eine Liste guter Fragen. Probiere heute eine davon. 
MittwochSuche eine Balintgruppe und vereinbare einen Termin. 
DonnerstagLade einen potenziellen Mentor auf einen Kaffee ein. 
FreitagMache eine Nachbesprechung über einen Fall zur Intuition. 
WochenendeTriff einen guten Freund, bei dem du dich wohl fühlst. 
Woche 4
MontagMach eine zusätzliche Pause (ohne digitale Ablenkung). 
DienstagLies über Placebo/Nocebo und planen das Wissen zu nutzen. 
MittwochLies über Vortest-Wahrscheinlichkeit und ihre diagnostischen Auswirkungen. 
DonnerstagBestelle dir ein gutes, inspirierendes Buch über Medizin. 
FreitagMache eine Nachbesprechung über die Lehren dieser Woche. 
WochenendePlane deinen nächsten, längeren Urlaub. 

Zusatz:

  • Die Freitags-Nachbesprechung (kurzes, reflektierendes Gespräch) soll motivieren und dabei helfen, dranzubleiben.
  • Oftmals ist es motivierender, eine solche Challenge gemeinsam zu machen. Wer könnte Interesse haben?
  • Danach stelle dir diese Reflexionsfragen:
    • Welche Gewohnheiten setzt du bereits regelmäßig um? Durchstreichen.
    • Welchen möchtest du neu beginnen? Markieren.
    • Wie kannst du daraus eine Routine entwickeln? Notiere deinen Plan.

Bereit für die Challenge?

Ich hoffe, diese Umfrage und dieser Artikel waren interessant und nützlich für dich. Zum Schluss möchte ich noch einen Hausarzt aus dem Global Survey zitieren:

„Jedes Mal, wenn ein Patient deine Praxis betritt, ist dies ein heiliger Moment – einer, der Achtsamkeit und Fürsorge erfordert… in diesem Moment sind wir da, um zu dienen – mit Qualität, Sicherheit und Mitgefühl.“

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Kommentare von ehemaligen WONCA Präsidenten

Vielen Dank, dass Ihr euch die Zeit genommen habt, meinen Blogbeitrag zu kommentieren. Ich schätze eure freundlichen Worte und eure durchdachten, wissenschaftlichen Reflexionen sehr. Eure Anregungen bereichern die Diskussion und sind für mich – und ich bin sicher auch für die Leserinnen und Leser – inspirierend. Ich freue mich sehr, von eurer Expertise profitieren zu dürfen.

Dr. Anna Stavdal
WONCA Präsidentin 2023-2024

Prof. Richard Roberts
WONCA Präsident 2010-2013

Prof. Chris van Weel
WONCA Präsident 2007-2010

„Die Werte und Prinzipien der Allgemeinmedizin bilden die Basis unserer Disziplin. Gesellschaftliche Trends spiegeln sich immer im Gesundheitswesen wieder, vorallem in der Primärversorgung. Veränderung ist ein kontinuierlicher Prozess. Um die Grundlagen der Allgemeinmedizin zu erhalten und weiterzuentwickeln, ist es notwendig kontinuierlich über die Werte und Prinzipien unseres Berufes zu reflektieren. Das ermöglicht uns eine Anpassung an Veränderung, ohne unsere Werte und Arbeitsmethoden aus dem Blickfeld zu verlieren.

Diese Umfrage vermittelt einen Eindruck davon, wie Hausärzte weltweit daran arbeiten, ihre berufliche Identität zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Form der „Ratschläge“ und die Beschreibung der „Gewohnheiten“ machen die Ergebnisse der Umfrage für Hausärzte auf allen Stufen ihrer beruflichen Laufbahn zugänglich und nützlich.

Das Format wird einer alten Weisheit gerecht: „Der Mensch muss mehr erinnert als belehrt werden“.

Vielen Dank an Florian für seine „Golden Nuggets“ und für die Durchführung dieser Umfrage.“

„Mein Kommentar besteht aus zwei Teilen: die spezifischen Gewohnheiten und Themen, die identifiziert wurden, und die möglichen wissenschaftlichen Auswirkungen der Umfrage. Ich habe versucht meinen Kommentar wie einen Review für ein wissenschaftliches Journal zu gestalten.

Die 7 beschriebenen Gewohnheiten sind vernünftig. Der Ratschlag mit den meisten Antworten (127) war, den Patienten aufzufordern, seine Geschichte ohne Unterbrechung zu erzählen. Bloßes Zuhören ist nicht genug. Aktives Zuhören setzt voraus, dass man in einer offenen Position sitzt, Augenkontakt herstellt und Ablenkungen wie Bildschirmen widersteht. Ich denke auch, dass Beziehungen für Hausärzte eine Superkraft sein können, da sie helfen, Vertrauen aufzubauen und die Zufriedenheit der Patienten und des Berufs zu verbessern. Doch die meisten Patienten werden nur wenige Male von einem Arzt gesehen. Wir brauchen mehr Fähigkeiten, um die therapeutischen Beziehungen bei jedem Besuch mit jedem Patienten zu optimieren. Mehrere der Gewohnheiten konzentrieren sich darauf, wie man zu einer korrekten Diagnose kommt. Doch nur etwa 1 von 4 Konsultationen beinhaltet ein neues Problem. Die noch größere Herausforderung besteht heute darin, Fähigkeiten zu entwickeln, um Menschen dabei zu helfen, den Lebensstil zu ändern und chronische Krankheiten zu bewältigen. Kontinuierliches Lernen ist eine wichtige Gewohnheit für jeden Professionisten. Ich war überrascht, dass keiner der Befragten dazu riet, kritische Beurteilungsfähigkeiten zu erlernen (z.B. POEMs vs. DOES) oder das sich verändernde Lernumfeld mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz (KI) vorwegzunehmen.

Die 4 Themen sind schwer zu kritisieren, obwohl ich einen anderen Eröffnungssatz vorschlagen würde als
„Was ist heute Ihre größte Sorge?“ Dies suggeriert, dass jeder Besuch ein Anliegen oder Problem beinhaltet. So viele Besuche werden heutzutage zur Prävention oder zu administrativen Zwecken angeordnet, dass der Patient nicht das Gefühl haben muss, dass er ein Anliegen oder Problem hat. Besser ist etwas Allgemeineres wie „Was möchten Sie heute besprechen?“ oder „Wie kann ich Ihnen heute helfen?“

In dem Artikel wird angemessen auf die Herausforderungen bei der Umsetzung dieser Ratschläge in die Praxis hingewiesen. Ich glaube, dass die Strategien und Instrumente der Human Factors Science bekannter werden und häufiger zum Einsatz kommen, da sie den besten Ansatz für sinnvolle und nachhaltige Veränderungen zu bieten scheinen. Die Qualitätsbewegung hat auch Beispiele für Ansätze zur Qualitätsverbesserung geliefert, die sich in der Primärversorgung als hilfreich erwiesen haben, wie z.B. Qualitätszirkel, Praxistutoren, Audits, Fallbesprechungen durch das Behandlungsteam und so weiter.

Wie die meisten Studien wirft auch diese mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Welchen Rat würden Patienten oder ärztliches Personal ihren Hausärzten geben? Welche Eigenschaften oder Verhaltensweisen wünschen sich die Leiter von Gesundheitssystemen bei Hausärzten? Schließlich wurde selbst der am häufigsten genannte Ratschlag („Höre deinem Patienten aufmerksam zu“) nur von 1 von 4 Befragten (127 von 468) genannt. Was hielten die anderen 3 von 4 Befragten von diesem Ratschlag, oder von irgendeinem anderen Ratschlag? Diese zusätzlichen Fragen könnten durch ein erweitertes Studiendesign beantwortet werden, das qualitative und quantitative Daten mit gemischten Methoden (Fokusgruppen, Einzelinterviews, halbstrukturierte Umfragen bei Patienten, Ärzten, Mitarbeitern und Führungskräften usw.) kombiniert.“

„Es ist sehr interessant zu lesen, wie eine internationale Gruppe von Hausärzten ihr Fach versteht – und wie sie die Kompetenzen erlebt, die für ihre professionelle Arbeit erforderlich sind.

Beruhigend ist, dass Hausärzte aus verschiedenen Ländern, die in unterschiedlichen Gesundheitssystemen arbeiten und mit unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen konfrontiert sind, dennoch eine so breite gemeinsame Basis teilen. Das unterstreicht, dass die Allgemeinmedizin, die Primärversorgung, eine internationale Disziplin ist, getragen von gemeinsamen Kernwerten in der Versorgung von Patienten und Gemeinden.

Das ist in meinen Augen ein positiver Aspekt, der gar nicht hoch genug geschätzt werden kann: Viel zu oft gehen Wissenschaft, Politik und Ausbildung davon aus, dass Hausärzte, die Primärversorgung, lediglich eine lokale Ergänzung zu einer ansonsten „universellen“ Gesundheitsversorgung darstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir teilen Werte und Kompetenzen über nationale Grenzen hinweg, unabhängig von den Regeln und Vorschriften der Gesundheitssysteme, die uns auferlegt werden. Darin liegt die bislang unerschlossene Kraft der Allgemeinmedizin – eine Kraft, auf die wir uns in der internationalen Zusammenarbeit zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung stützen können.

Der Artikel verdient jedoch auch eine kritische Betrachtung. Zunächst einmal in der Darstellung der Zahl von Befragten, die zentrale Elemente unseres Fachs unterstützen. Die Gefahr besteht darin, dass dies zu einer quantitativen Bewertung führt, bei der die Punkte mit der größten Zustimmung als die wichtigsten angesehen werden. Aus meiner Sicht sind alle wichtig – und ihre Bedeutung liegt darin, dass sie kohärent angewendet werden, in Verbindung mit den Bedürfnissen von Patienten und der Bevölkerung. Diese Notwendigkeit von vernetzten, zusammenhängenden Maßnahmen unterstreicht die Komplexität der Allgemeinmedizin, die sich um alle Patienten mit unselektionierten Gesundheitsproblemen kümmert. Auch dies kann gar nicht nachdrücklich genug betont werden, sonst laufen wir Gefahr, dass Primärversorgung lediglich als „einfaches“ Tätigkeitsfeld betrachtet wird.

Und damit zusammenhängend: Wir neigen dazu, unsere Arbeit in sehr allgemeinen Begriffen mit großen Worten zu beschreiben – wie Empathie oder Intuition – ohne zu problematisieren, was sich dahinter verbirgt. Empathie ist ein wichtiger Wert in der Verbindung zu Patienten und Gemeinden. Aber unter welchen Bedingungen ist sie wirklich hilfreich? Intuition ist wichtig, aber wie funktioniert sie? Solange wir nicht in der Lage sind, ihrem wahren Bedeutungsgehalt nachzugehen, bleiben große Worte möglicherweise leere Hüllen – zum Nachteil der wichtigsten Disziplin im Gesundheitssystem.“

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